Das stilistisch vielleicht vielfältigste und sicher eines der ausgereiftesten aller bisherigen Konzerte präsentierte das Verbandsjugendorchester Germersheim am 15. Januar d.J. in der ausverkauften Germersheimer Stadthalle. Wenn man die kurze, auf wenige Wochenenden beschränkte Vorbereitungszeit betrachtet, so ist die gezeigte Leistung umso höher zu bewerten; sie spricht für die Intensität der Proben und für die Qualität der Musiker und ihres Dirigenten, die heuer ein besonders breites musikalisches Spektrum präsentierten – von der Eröffnungsfanfare über die Opernouvertüre und das Solistenkonzert bis hin zur originalen sinfonischen Blasmusik, dem ‚guten alten‘ Marsch im konzertanten Gewand und schließlich sogar zu der fast schon vergessen geglaubten Tanzmusik, und dies alles in einer bemerkenswert gleich bleibenden hohen Qualität! Wenn es im Jahre 2012 überhaupt noch eines Beweises für die kontinuierlich steigende Qualität der ‚geblasenen Musik’ bedarf – sei es als Originalkomposition oder als Bearbeitung –, so wurde er hier und heute geliefert.
Mit flirrender Virtuosität, nahezu perfektem Zusammenspiel aller Register, einem souveränen Übergang zu den lyrischen Klängen des Mittelabschnittes und einer triumphalen Rückkehr zum mitreißenden Schwung der Einleitung begann das Konzert mit Robert Sheldons Rhapsodic Celebration. Es ist dies ein Stück, dessen zupackender Charakter den Zuhörer unmittelbar in seinen Bann schlägt. Auch wenn das Werk keinem außermusikalischen Inhalt folgt, so könnte man damit getrost sogar Olympische Spiele eröffnen. Schließlich darf der Begriff ‚celebration‘ durchaus als Feier der Erfolgsgeschichte des VJO verstanden werden, die während eines Lehrgangs zum Erwerb des JMLA Silber im Herbst 1991 ihren Anfang nahm und die nunmehr genau 20 Jahre andauert.
Ein Leistungsmesser der besonderen Art ist noch immer die Interpretation eines Werkes, das ursprünglich nicht der Blas-, sondern der sinfonischen Musik entstammt und das bei seiner Übertragung vor allem an das Holzregister außerordentliche Anforderungen stellt. Die Aufführung eines solchen Werkes hat beim VJO erfreulicherweise eine lange und erfolgreiche Tradition, und so wagte man sich heuer bereits zum zweiten Mal an die Ouvertüre zu Richard Wagners ‚großer tragischen Oper’ Rienzi. Ist zum einen die Bearbeitung von Mark Hindsley als Glücksfall zu bezeichnen, so muss man zum anderen den Musikern eine große Leistung in deren Umsetzung bescheinigen. Von wenigen kleinen ‚Bruchstellen‘ und Intonationstrübungen in den leisen und lyrischen Passagen abgesehen – und vielleicht lässt sich das eine oder andere Thema noch plastischer herausarbeiten –, gingen die knapp 70 Akteure mit höchster Konzentration ans Werk und wurden dieser schon fast monströsen 17minütigen Ouvertüre mehr als nur gerecht. Von dieser Interpretation bleiben neben dem sehr präsenten Holzregister vor allem die markanten Blechbläsereinsätze sowie die allgemeine rhythmische Präzision in guter Erinnerung. Bleibt zu hoffen, dass der sparsam, aber dennoch umsichtig agierende Fabian Metz auf diese Weise der sinfonischen Musik auch künftig ein Forum bietet!
Die zweite größere Herausforderung des Abends bestand in der Interpretation des dreiteiligen sinfonischen Porträts Der Leidensweg Christi des 1987 verstorbenen Amerikaners Dominik Del Ra. Bildet die musikalische Umsetzung der Passion in der sinfonischen Musik eine lange und große Tradition, so hat die Blasmusik mit diesem Werk vor rund 25 Jahren ziemliches Neuland betreten. Umso bemerkenswerter ist es, wenn der Komponist bei allen äußeren Effekten wie z.B. der lautstarken Darstellung der Kreuzigung durch Hammerschläge die eigentliche Musik nicht vergisst und ein Werk schafft, das einen das Geschehen hautnah miterleben lässt – von der allgemeinen Stimmung auf Golgotha des Gründonnerstags über den Gang zum Kalvarienberg und der Kreuzigung bis zur bejubelten Auferstehung am Ostersonntag. Diesem großen und großartigen Werk, das die Musiker am Ende zusätzlich als Sänger vorsieht, entspricht die Leistung des VJO, das die monumentalen, geradezu beharrlichen Klänge zu Beginn (Ben Hur und Exodus lassen grüßen!) und das triumphale Ende ebenso anschaulich vermitteln konnte wie die zwischenzeitliche Trauer und Leere nach dem Kreuzestod Jesu. Hier verbanden sich hohe Präzision und große Leidenschaft zu einem Klangpanorama, das die Zuhörer sicherlich so schnell nicht vergessen werden.
Traditionell zeigt sich das VJO nach der Pause von einer ganz anderen Seite. So begann der zweite Konzertteil mit einem ungewöhnlichen, aber höchst interessanten Solokonzert, nämlich dem Concerto for Clarinet and Band von Artie Shaw (1910-2004). Dessen Werke fallen im Gegensatz zu seinen Kollegen der Swing-Ära, Benny Goodman und Woody Herman, insgesamt weniger experimentell aus, sind dafür aber traditioneller in der Form und lyrischer in Diktion und Tongebung. Bei diesem um 1940 entstandenen Werk ist der Konzertbegriff jedoch nicht im klassischen Sinne und als strenge Form, sondern als ein eher locker gefügtes Zusammenspiel zwischen Solist und Orchester zu verstehen. Es war ein harmonisches Ganzes, dieses Zusammenspiel zwischen dem VJO und Jens Singer, ehemals Mitglied dieses Orchesters, der inzwischen Erfahrung in mehreren Profi-Ensembles gesammelt hat und an diesem Abend an seine alte Wirkungsstätte zurückgekehrt ist. Jens hat vielleicht nicht den alles überstrahlenden Ton, besitzt dafür jedoch eine brillante Technik und eine enorme Leichtigkeit und Souveränität, die ihn für ein solches improvisatorisch angehauchtes Konzert als den idealen Interpreten erscheinen lassen. Mit Shaws Concerto brachten das Orchester und sein Solist eine besondere Note in ihr bunt schillerndes Programm, und dies ist wörtlich zu verstehen, denn Jens Singer beendete seinen Vortrag mit einem fulminanten dreigestrichenen b, einem zumindest im Blasmusikbereich bis dato wohl noch nicht gehörten Schlusston!
Erstaunlich auch, welch langen Atem die Musiker nach dieser lockeren Swing-Nummer noch für eine sehr ansprechende Interpretation des Breath of Gaia von Tomohiro Tatebe (*1957) besaßen. Diese Tondichtung nimmt den Zuhörer mit auf eine Reise in das Innere der Erde, die in den altgriechischen Dichtungen ‚Gaia’ genannt wird, und lässt uns deren Schönheit und lebendige Energie erleben. Dieses „Gemälde einer idealisierten Welt” beschreibt das ursprüngliche Chaos der Morgendämmerung der Erde, überbringt uns Dank und Gebet der friedliebenden Lebewesen und mündet in eine tief empfundene und gesungene (!) Hymne an das Leben sowie in einen befreienden, ekstatischen Tanz. Tiefgründig zu Beginn und äußerst lebendig gegen Ende empfanden die Musiker jeden einzelnen Takt dieser bemerkenswerten Komposition nach, die der Blasmusik einmal mehr neue Dimensionen eröffnete.
Ein gefälliger ‚Rausschmeißer’, Leroy Andersons Irish Washerwoman aus dessen Irish Suite, beendete das offizielle Programm, und hier war es sowohl dem Komponisten als auch den Akteuren incl. ihrem Dirigenten mit Witz, Charme und Präzision gelungen, aus dieser wunderbar bescheidenen Volksmelodie ein elegantes und kultiviertes Konzertstück zu formen und dem Zuhörer den Eindruck zu vermitteln, dass er dieses Stück irgendwie gut kenne.
Auch wenn sich das VJO durch seine Besetzung und seinen Qualitätsanspruch eher an größer dimensionierten Werken orientiert, so hat es mit seinen beiden Zugaben – die Fabian Metz übrigens gleich im Doppelpack angekündigt hatte! – nachhaltig bewiesen, dass sowohl gepflegtes Marschspiel (wie in Alexander Pflugers gefälligem Konzertmarsch Abel Tasman) als auch wehmütige Tanzmusik (wie beim Tango Por una cabeza des unvergessenen Carlos Gardel) nicht nur möglich sind, sondern dass ein harmonischerer Ausklang eines beeindruckenden Konzertes kaum denkbar ist.
Text: Dr. Clemens Kuhn